Dienstag, 30. Juli 2013

Menschen auf dem Mars - was wäre, wenn?

Ich weiß nicht genau, warum "Alternativweltgeschichten" zur Science Fiction zählen. Vermutlich, weil Literaturwissenschaftler alles gerne in Kategorien packen und ihnen dieses Genre so suspekt vorkam, dass sie ihm lieber das möglicherweise verpönte SF-Label überhalfen, anstatt es als eigenständige Gattung anzusehen. Sicherlich gibt es Alternativweltgeschichten, die Elemente der SF aufweisen, und einige sehr berühmte SF-Autoren versuchten sich daran (zum Beispiel Philip K. Dick mit "Das Orakel vom Berge"). Andererseits stammen viele von Menschen, die mit SF gar nichts am Hut haben. Selbst Winston Churchill schrieb eine, was um so bemerkenswerter ist, als er später selber zum Helden von Alternativweltromanen wurden ("Unternehmen Proteus" von James P. Hogan).

Für mich zählen Alternativweltgeschichten zu den anspruchsvollsten Werken der Literatur, aus einem einfachen Grund: Sie verlangen vor allem vom Verfasser, aber durchaus auch vom Konsumenten recht sichere Kenntnisse über Geschichte. Kernüberlegung ist ja jedes Mal: "Was wäre, wenn die Geschichte an einem bestimmten Punkt einen anderen Verlauf genommen hätte?" Was wäre geschehen, wenn Alexander der Große nicht mit 33 in Babylon gestorben wäre? Welchen Verlauf hätte die Geschichte genommen, wenn Marcus Antonius die Schlacht bei Actium zu Lande und nicht zu Wasser gefochten hätte? Was wäre, wenn die Konföderierten den amerikanischen Bürgerkrieg gewonnen hätten? Je mehr man selber mit dem echten Zeitverlauf vertraut ist, umso mehr Spaß macht es, die Fiktion zu lesen. Sicherlich ist es nur eine Gedankenspielerei - aber welche Prosa-Literatur ist das nicht?

Eine der für mich schönsten Alternativweltgeschichten habe ich mir jetzt  mal wieder vorgenommen: "Mission Ares" von Stephen Baxter ("Voyage", 1996). In ihm entwirft Baxter ein faszinierendes Szenario: Die Landung von amerikanischen Astronauten auf dem Mars im Jahre 1986, die Begeisterung ausnutzend, die die Mondlandung 1969 verursacht hatte. Damals, so schreibt Baxter in seinem Nachwort, wäre Amerika bereit gewesen, zum Mars zu fliegen. Die Geschichte nahm bekanntermaßen den uns vertrauten Verlauf - doch es hätte anders kommen können.

Der Punkt, an dem sich laut Baxter die Historie geändert hätte, liegt im Jahr 1963. Am 22. November wird in Dallas das Attentat auf Präsident John F. Kennedy verübt. Doch hier ist es nicht der Präsident, der stirbt, sondern seine Frau . JFK überlebt schwer verletzt und muss aufgrund dieser Verletzungen sein Amt niederlegen - doch im Hintergrund wirkt er weiter und gibt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt den entscheidenden Schubs in die richtige Richtung: Als er am 20. Juli 1969 von Nixon die Erlaubnis bekommt, auch kurz mit den ersten Amerikanern auf dem Mond zu sprechen. Er sagt dabei: "Wir werden zum Mars fliegen..." Und die NASA hat ein neues Ziel.

Das hätte wirklich passieren können! Bereits vor der Mondlandung hatte Nixon den Auftrag erteilt, Nachfolgeprogramme für Apollo zu entwickeln und die Richtung für die nächsten Jahrzehnte zu formulieren. Der Flug zum Mars war eine Alternative. In der Realität entschied sich Nixon gegen den Marsflug - bei Baxter nicht. Hier wird dieser Plan letztlich favorisiert. Und beinahe minutiös entwirft Stephen Baxter eine neue Geschichte, in der die NASA Menschen auf den Mars schickt.

Was für mich den besonderen Reiz des Werkes ausmacht, ist die Tatsache, dass Baxter nicht wild drauflos fabuliert, sondern echte Geschichte mit seiner Fiktion verwebt. Die Suche nach dem richtigen Weg erinnert an die Machtkämpfe, die innerhalb der NASA in Vorbereitung auf die Mondlandung tobten. Detailliert beschreibt Baxter die Entstehung des Marslanders, einer völlig neuen Technologie, die schon bald jenseits jeglichen Kosten- und Zeitplans ist (Parallelen mit der Mondlandefähre sind unübersehbar). Es gibt auch bei Baxter ein gemeinsames sowjetisch-amerikanisches Raumflugprojekt - nur findet es in der Mondumlaufbahn statt, wo die NASA ein zweites Skylab stationiert hat, um den Langzeitflug zum Mars zu trainieren.

Es gibt Unglücke und Rückschläge: Drei Astronauten sterben bei einem Testflug mit einer NERVA-Raketenstufe (einem atomaren Triebwerk, an dem die NASA bis 1972 wirklich arbeitete), und einmal beschreibt Baxter die Explosion einer neuartigen Saturn V so plastisch, dass man sofort das Bild der verunglückten Challenger vor Augen hat. Apropos Challenger: Als die Marsastronauten ihren Raumschiffen Funknamen geben, da taufen sie ihr Missionsmodul, in dem sie während des Fluges zum Mars und zurück leben, Endeavour, das Apollo-Raumschiff, mit dem sie wieder auf der Erde zurück kehren, Discovery, und das Marslandefahrzeug Challenger.

Interessant ist auch Baxters Umgang mit den Menschen im Buch. Es gibt natürlich einige reale Personen, die mehr oder weniger stark erwähnt werden. Die Astronauten Bob Crippen, Fred Haise und John Young beispielsweise, die beim Marsflug als Capcom arbeiten (von John Young heißt es sogar, er hätte zum Mars fliegen können, wenn er sich nicht wegen seiner Kritik an Budgetkürzungen mit dem Management überworfen hätte), oder Politiker wie Nixon, Carter, Weinberger und Reagan, deren reales Handeln sich faszinierend mit Baxters Fantasie überschneidet.

Andere sind eine Mischung aus echten und erfundenen Personen. Bei Baxter heißt der zweite Mann auf dem Mond Joe Muldoon, der große Ähnlichkeiten mit Buzz Aldrin aufweist, aber auch mit Deke Slayton (genau wie dieser wird er Leiter des Astronautenbüros und hat damit die schwierige Aufgabe, die Mannschaften zusammen zu stellen). Der NASA-Manager Bert Seger ist ein Alter Ego von Joseph Francis Shea (letzterer hatte in der Realität das Apollo-1-Unglück zu verantworten, ersterer im Buch die NERVA-Katastrophe). Es gibt einen Gregory Dana, der in seinem Kampf für eine kostengünstige Flugbahn zum Mars an John C. Houbolt und dessen Eintreten für sein Konzept der Mondlandung erinnert, und einen Hans Udet, der Modell für die Nazi-Raketeningenieure stand, die bei der NASA ihre Raumflugprojekte verwirklichten, die Geister ihrer Vergangenheit aber nie los wurden. Es gibt den Astronauten Adam Bleeker, der kurz vor dem Marsflug aus gesundheitlichen Gründen aus der Mannschaft genommen wird, ähnlich wie Ken Mattingly bei Apollo 13.

Die Marsastronauten sind natürlich ganz frei erfunden, wenngleich auch ihr Werdegang realen Vorbildern ähnelt. Besonderen Charme hat Natalie York, erste Frau bei der NASA, die als Missionsspezialistin mitfliegt, aber sowohl als Frau wie auch als Wissenschaftlerin gegen immense Widerstände im Macho-Klub der NASA-Testflieger-Astronauten kämpfen muss (Ähnlichkeiten mit Sally Ride und Harrison Schmitt sind durchaus gewollt). Ihre Entwicklung von einer Kritikerin der NASA hin zur widerstrebenden Astronautenheldin, die verbissen auf ihr großes Ziel hinarbeitet und dabei immer mehr bereit ist, Kompromisse einzugehen, wird eindrucksvoll beschrieben. Im Buch ist sie es schließlich, die am 27. März 1986 als erster Mensch einen Fuß auf den staubigen Boden des Mangala Valley des Mars setzt.

Beschreibt Baxter nun eine bessere Welt als die, die wir hatten? Nicht unbedingt, und auch das macht das Buch so interessant. Zwar erreichen wir den Mars. Dafür wird das Mondflugprogramm nach Apollo 15 eingestellt. Es gibt kein Space Shuttle, kein Viking, kein Pioneer und kein Voyager, kein Hubble... Alles wird dem großen Marsziel untergeordnet und über den Haufen geworfen. Im Prinzip wissen wir in diesem Zeitablauf weniger über das Sonnensystem als in unserem, obwohl wir zwei extraterrestrische Himmelskörper erreicht haben. Und es ist vielleicht gut, dass Präsident Ronald Reagan bei einer Marslandung nie die Rede halten durfte, die er im Buch hält...

Unter dem Strich bleibt für mich ein faszinierendes Buch mit einem interessanten Gedankenexperiment, überaus spannend und nachvollziehbar geschrieben, anscheinend aber - so mein Eindruck - passagenweise nicht gut übersetzt. Zugleich bietet es einen beeindruckenden Einblick in die Arbeitsweise der NASA und der Menschen, die zu ihr gehören. Nüchtern und realistisch beschreibt Baxter einen monatelangen Flug zum Mars, interessant ist sein Blick hinter administrative und politische Kulissen bei der Entwicklung von Raumflugprogrammen. Und ich konnte sogar was lernen: Weder habe ich bislang gewusst, warum die Sowjets in ihren Raumschiffen beim Start immer Püppchen von der Kabinendecke zu hängen haben, noch wie Apollo-Astronauten bei ihren Flügen - sorry - kackten. Wer's wissen will, muss das Buch lesen oder mich fragen.

Zum Schluss noch dieses. Bei der Recherche habe ich dieses Youtube-Video gefunden. Es zeigt den exakten Verlauf der "Ares"-Mission aus dem Buch als Computer-Simulation. Die Qualität ist manchmal zwar armselig und die Musik für meinen Geschmack zu aufdringlich, aber der Film zeigt genau das, was sich Baxter mit Hilfe von NASA-Wissenschaftlern überlegt hat. Ich find's interessant.


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